Sapir Englard
SIENNA
Seit dem Rennen waren drei Tage vergangen und die Zeit danach fühlte sich an wie der Kater am Tag nach einem Saufgelage. Meine Gefühle spielten total verrückt.
Manchmal war ich völlig euphorisch, wenn ich mich an die Aufregung der Jagd erinnerte und dann wieder zutiefst niedergeschlagen, weil ich glaubte, so etwas würde ich nie wieder erleben.
Aiden spürte es auch. Er hatte Abstand gehalten in letzter Zeit und sich in die Arbeit gestürzt. Selene hatte dummerweise vergessen, mir zu sagen, dass der besten Erfahrung meines Lebens furchtbares Unwohlsein folgen sollte.
Ich musste etwas tun, um uns beide da rauszubekommen, und so beschloss ich, Aidens Lieblingsdessert zu backen: Apfelkuchen.
Von Jocelyn wusste ich, dass der Alpha eine heimliche Leidenschaft für Süßes hatte. Und diese Waffe aus meinem Arsenal hatte ich noch nicht gegen ihn eingesetzt. Dieses Mal würde ich es ihm jedoch liebevoller servieren.
Ich summte und tanzte durch die Küche und verteilte überall Mehl. Ich rechnete ja nicht damit, dass gleich Mäuse und Vögel hereinkämen, um mich in Seide und Tücher zu hüllen, aber dieses märchenhafte Gefühl? Es fühlte sich verdammt gut an.
Die Uhr am Backofen klingelte und der Apfelkuchen war fertig. Er roch himmlisch. Dürfte ich mir einen Eigengeruch aussuchen, ich würde mich für frischen Apfelkuchen entscheiden.
Aufgeregt fragte ich Aiden, wann er nach Hause kommen würde. Ich wusste nicht, wie lange ich noch warten konnte, seinen Gesichtsausdruck zu sehen.
All die Freude, die sich in mir angestaut hatte, verflog im Handumdrehen. Plötzlich war ich wütend – auf mich selbst, weil ich mich so ins Backen gestürzt hatte. Wie ein unterwürfiges Hausweibchen.
Hatte ich nichts Besseres zu tun, als für meinen Mann zu backen? Als auf seine Bestätigung zu warten?
Aber ich war genauso verärgert darüber, wie wütend mich seine Nachrichten machten. Dass seine Abwesenheit mich so beeinflusste.
Zuvor hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht als so viel Abstand. Ich hatte ihn auf die andere Seite des Planeten gewünscht. Aber jetzt hielt ich keinen Tag ohne ihn aus.
Das gefiel mir gar nicht.
Als der Apfelkuchen abkühlte, verflog auch sein Duft. Aidens unverkennbarer Geruch – eine Mischung aus feuchtem Waldboden und Mann – erfüllte wieder den Raum. Anscheinend war sein Geruch stark genug, mich zu überkommen, selbst wenn er nicht da war.
Er alleine reichte aus, um in mir körperliche Sehnsucht nach ihm auszulösen. Seit unserem Rennen hatte mein innerer Wolf ununterbrochen das Bedürfnis, in seiner Nähe zu sein. Als ob er etwas ausstrahlte, das uns verband. Und ich wollte ohne Unterlass Teil davon sein.
Mir liefen Tränen über das Gesicht. Ich legte die Hand auf mein Mal und weinte. Mir war klar, das war übertrieben. Ich fühlte mich wie ein dummes, verknalltes Mädchen.
Aber es war mir egal. Ich wollte nur, dass er hier war, mich in den Arm nahm, mich küsste, mir sagte, dass alles gut gehen würde mit uns beiden.
Aber stattdessen war ich hier allein.
AIDEN
Ich legte mein Handy zurück auf den Schreibtisch.
„Verdammt“, raunte ich.
Ich wollte Sienna das wirklich nicht antun. In den letzten drei Tagen hatte ich sie kaum gesehen, weil ich ununterbrochen im Rudelhaus gewesen war.
Alles war in Aufruhr, seit wir überraschend erfahren hatten, dass der Alpha des Millenniums zu unserem Winterball kommen würde.
Und wenn alles in Aufruhr war, dann machte ich eben Überstunden.
Einerseits war es eine große Ehre, dass so ein wichtiger Gast unseren bescheidenen Ball besuchte. Der Alpha des Millenniums war, nun ja, der Anführer von verdammt noch mal allem.
Er war das Zentrum der Macht, das jeder verehrte. Dass er uns mit seiner Anwesenheit erfreuen wollte, würde vielleicht nie wieder vorkommen.
Aber es kam mir verdächtig vor. Warum hatte sich der Alpha des Millenniums entschieden, zu unserem Ball zu kommen? Und warum so kurzfristig? Interessierte er sich nur für unsere jährliche Feier, unser Rudel, oder steckte da mehr dahinter?
Ich wusste es nicht. Aber um auf alles vorbereitet zu sein, würde ich meine Sinne geschärft halten, bis der Ball vorüber war.
Ich hatte die Sicherheitsmaßnahmen bereits deutlich verschärft, sowohl auf dem Winterball als auch für die Tage davor. Als mächtigster Mann der Welt – und das war der Alpha des Millenniums – hatte man unweigerlich eine ganze Reihe an Feinden. Und aufgrund der Grenzüberschreitung war klar, dass unser System lückenhaft war.
Ich würde jedenfalls keine Risiken eingehen.
Als ich die Sicherheitsstufe erhöhte, blickten mich einige Rudelmitglieder an, als sei ich paranoid geworden. Aber ich wusste, wir sollten auf der sicheren Seite stehen. Auch wenn alles gut ging, wollte ich es lieber übertrieben haben.
Ich hatte vollstes Vertrauen in mein Rudel, dass sie meinen Befehlen folgten und Ergebnisse lieferten, aber in letzter Zeit fragte ich mich, ob sie dasselbe Vertrauen in mich hatten. Ich sah die Blicke, die sie sich zuwarfen, wenn ich Befehle gab, und das Flüstern hinter meinem Rücken.
Paranoid.
Nicht stark genug.
Einsam.
Nicht, dass sie mir nicht gehorchten oder mich nicht respektierten. Das wäre inakzeptabel gewesen. Derjenige wäre sofort bestraft und ersetzt worden. Ich war der Alpha und ich hatte das Sagen.
Es war eher so … als ob sie sich Sorgen um mich machten. Sie wollten das Beste für ihren Alpha und sie wussten nicht, wie sie mir helfen konnten.
Immer wieder ging es darum, eine Lebensgefährtin zu finden. So viel war klar. Die Blicke, das Geflüster, alles wäre vorbei, wenn ich endlich vermählt wäre.
Aber vielleicht waren sie zurecht besorgt. Ich konnte mich keine Sekunde auf etwas anderes als auf Sienna konzentrieren. Ich sollte mich auf das Rudel konzentrieren, den Winterball und den Besuch des Alpha des Millenniums, aber ich sorgte mich wegen ein paar Nachrichten.
Mein innerer Wolf knurrte. Genug davon. Ich war Alpha. Der Alpha hinterfragt sich nicht selbst.
Ich drehte mich am Konferenztisch zu Josh um, der sich gerade durch einige Dokumente las. Wir wollten eigentlich ein paar rechtliche Dinge klären und fertig machen, aber Jeremy war noch nicht erschienen.
„Josh, vergiss den Papierkram. Ruf das Rudel zusammen. Wir haben ein paar Dinge zu besprechen.“ Josh sah mich an und nickte dann.
Er ging rüber zum Telefon, drückte einen Knopf und bellte dann: „Rudel zum Konferenzraum. Rudel zum Konferenzraum. Befehl des Alpha.“
Befehl des Alpha. Ganz genau.
SIENNA
Ich hatte mich nun schon ein paar Mal aufs Bett geworfen, aber es half wenig dabei, mich zu beruhigen. Ich fühlte mich nur noch einsamer.
Ich musste mit jemandem reden. Jemand, der diese Sehnsucht kannte. Normalerweise wäre das Michelle gewesen, aber wir hatten seit dem Shoppingausflug für Mias Kleid nicht mehr miteinander gesprochen.
Ich spielte eine Weile mit meinem Handy rum und versuchte, den Mut aufzubringen, Michelle zu schreiben. Mein innerer Wolf tobte in meinem Kopf.
Mach einfach, du blöde Kuh.
Ich hielt inne und starrte auf den Bildschirm. Eine Minute verging, dann noch eine. Ich wusste, ich konnte nicht so tun, als ob nichts passiert wäre. Als ob wir nicht gerade unseren schlimmsten Streit gehabt hätten. Mir war klar, wenn ich mich nicht entschuldigte, würde sie nicht antworten.
Und wie bekäme ich dann meine Freundin zurück?
Ich atmete tief ein. Und wartete. Immer noch keine Antwort. Also machte ich weiter und beschloss, einfach alles rauszuschreiben. Ich hatte nichts zu verlieren.
Ich ließ mein Handy aufs Bett fallen und zog mir die Decke über den Kopf. Ich hatte ihr alles gesagt, aber ich glaubte nicht, dass sie mir antworten würde. Ich war nicht für sie da gewesen, als sie mich wirklich gebraucht hatte.
Ich war zu selbstbezogen gewesen, um überhaupt zu merken, dass sie mich gebraucht hatte.
Also sollte es mich nicht überraschen oder zu Selbstmitleid führen, dass sie nun auch nicht für mich da war. Während ich das im Kopf wiederholte, vibrierte mein Handy. Mein Herz tat einen Sprung. Ich nahm das Handy und sah auf den erleuchteten Bildschirm.
Wie auf einer Achterbahn rutschte mir das Herz plötzlich in die Hose. All die Hoffnungen, die ich mir gemacht hatte … zerplatzt. Wie ein Luftballon.
Ich konnte ihr nichts vorwerfen. Das tat ich auch nicht. Aber weil ich wusste, dass es meine Schuld war, fühlte ich mich noch einsamer.
Es schien, als ob alle um mich herum Abstand brauchten. Abstand von mir.
Ich sah in die Ecke, wo meine ungenutzten und unfertigen Zeichnungen und Utensilien standen. Wenigstens waren meine Zeichensachen für mich da. Ich stand auf, nahm eine neue Leinwand und stellte sie auf die Staffelei.
Wenn all diese Gefühle schon in mir herumschwirrten, dann konnte ich sie ebenso gut in meine Kunst stecken. Es war eine Weile her, dass ich etwas Neues angefangen hatte. Ich hatte keine Ahnung, was es werden würde, aber wenigstens lenkte es mich für eine Weile davon ab, wie beschissen ich mich fühlte.
Ich fing mit Schwarz an, das passte zu meiner Stimmung. Lange, wellenartige Pinselstriche. Als nächstes, cremiges weiß. Zart und weich. Purpur, ich brauchte Purpur. Zwei Kreise. Durchdringende Pupillen. Zuletzt noch ein feiner grüner, von Mondlicht beleuchteter Hintergrund.
Ich trat einen Schritt zurück. Ich hatte eine Frau gezeichnet. Eine wunderschöne, aber traurige Frau. Sie kam mir bekannt vor. Warum verfolgte sie mich so? Ich schnappte nach Luft, als es mir klar wurde.
Es war die seltsame Frau aus dem Wald.
Ich hatte sie fast vergessen. Warum starrte sie mich dann von der Leinwand aus an? Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie echt gewesen war. Vielleicht war ich so verzweifelt, dass mein Gehirn anfing, Verbindungen zu halluzinieren, die mir echt vorkamen.
Aber ich wusste es besser. Sie war echt. Ich konnte sie fühlen, ihre Energie. Sie hatte etwas Einzigartiges. Etwas, das ich noch nie zuvor wahrgenommen hatte.
AIDEN
Ich sprang auf den Konferenztisch, an dem nun meine Rudelmitglieder saßen, und schritt ihn auf und ab. Dabei sah ich jedem einzelnen in die Augen und bewies meine Überlegenheit.
„Hört alle her“, befahl ich. „Hier wird sich in Zukunft einiges ändern. Der eine wahre Alpha wird uns besuchen. Dafür muss das Rudel eine geeinte Front bilden. So stark, dass uns keine Bedrohung etwas anhaben kann. Verstanden?“
Ich sah mich um. Mit ehrfürchtigen Blicken nickten sie zustimmend. „Das Rudel wird immer meine volle Aufmerksamkeit haben, zweifelt nie daran. Aber wenn einer meinen Entscheidungen nicht traut, dann haben wir ein Problem. Wenn einer von euch glaubt, meine Führungskraft verdient kein Gehorsam“, sagte ich und zeigte zur Tür, „dann ist da der Ausgang.“
Ich atmete ruhig, als ich jedem ins Gesicht sah. Niemand bewegte einen Muskel.
Also fuhr ich fort. „Sind wir uneins, sind wir geschwächt. Und wenn wir geschwächt sind, kommt es zu so etwas wie der Grenzüberschreitung. Versteht ihr? Es geht hier, verdammt noch mal, um den Alpha des Millenniums. Wenn wir ihn nicht beschützen können, dann haben wir es nicht verdient, uns Rudel zu nennen“, bellte ich sie an.
Ich ging zu Josh und beugte mich vor, kauerte über ihm. Dann sah ich ihm in die Augen. „Josh, mein Beta. Ich brauche deine absolute Loyalität. Wirst du meinen Befehlen folgen, ohne sie zu hinterfragen?“
Er sah sich im Raum um und versuchte, dabei möglichst neutral auszusehen.
„Wozu schaust du sie an? Ich bin hier“, knurrte ich.
„Ja, mein Alpha“, sagte er und sah mich endlich an. „Ich habe volles Vertrauen in dich als Rudelführer.“
„Ohne Widerworte.“
„Ohne Widerworte“, wiederholte er.
„Und der Rest von euch?“ Ich stand auf und sah das Rudel an.
„Ja, mein Alpha“, riefen sie.
„Wer ist das stärkste Rudel zwischen allen Küsten?“, schrie ich und stampfte auf den Tisch.
„Das Ostküstenrudel“, riefen sie zurück.
„Lauter!“
„DAS OSTKÜSTENRUDEL!“
Die Wölfe heulten auf wie die Krieger, die sie waren, und ich war so stolz wie seit Monaten nicht mehr. Das war unser Gebiet und wir würden es mit unserem Leben verteidigen.
Mein Handy vibrierte und das Adrenalin ließ mein Herz noch rauschen, als ich darauf sah.
Verdammt. Ich war aufgebracht, umgeben von reiner Wolfsenergie, bereit, in den Kampf zu ziehen. Und sie hatte nichts Besseres zu tun, als meinen Alpha infrage zu stellen. Meine Männlichkeit.
Das würde ich mir nicht gefallen lassen.
„Josh, als Beta bist du für die Sicherheit am Winterball verantwortlich. Traust du dir das zu?“
„Absolut. Absolut, Alpha“, stotterte er. Er hatte nicht erwartete, nach der Befragung von vorhin befördert zu werden.
„Während der Grenzüberschreitung hast du die Initiative ergriffen und die Ausgangssperre war deine Idee. Du hast es verdient“, sagte ich nickend. Ich musste den Soldaten Grund zum Stolz geben, dachte ich mir.
„Ich werde dich nicht enttäuschen“, antwortete er.
„Das wirst du sicher nicht“, entgegnete ich. Und mit einem letzten Kopfnicken verließ ich hoch erhobenen Hauptes den Konferenzraum. Und begab mich auf den Weg in einen ganz anderen Kampf.