Der Engel der Sünde - Buchumschlag

Der Engel der Sünde

E.J. Lace

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Chapter
15
Age Rating
18+

Summary

Nachdem Marcella Sinclairs Mutter gestorben ist, fühlt sie sich für ihren achtzehnjährigen Bruder wie eine Last. Als sie ein Angebot bekommt, als Stripperin einen Haufen Geld zu verdienen, nimmt sie es an. Niemand darf davon erfahren... schon gar nicht ihr Bruder, der unbedingt will, dass sie für den Rest ihres Lebens rein und unschuldig bleibt.

Altersfreigabe: 18+

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Eins ist die einsamste Zahl

Mari

„Ms. Sinclair, bitte bleiben Sie noch eine Minute nach dem Unterricht. Ich muss noch mit Ihnen reden.“ Mr. Keats' kalte Stimme macht mich nervös.

Von all meinen Lehrern ist Mr. Keats derjenige, vor dem ich die größte Angst habe. Wir verstehen uns nicht besonders gut und jedes Mal, wenn ich in seiner Klasse bin, fühle ich mich, als hätte ich ein Verbrechen begangen.

Ich nicke und fluche innerlich über mein Pech. Wenn ich so darüber nachdenke, bin ich wirklich schon immer ein verdammter Pechvogel.

Ich packe meine Bücher in meine Tasche, schnappe mir meine Jacke und sehe zu, wie der Rest meiner Klasse den Raum verlässt.

Ich weiß nicht, was es mit diesem Mann auf sich hat, aber er gibt mir immer das Gefühl, dass ich absolut nichts wert bin. Als ob nichts, was ich tue, richtig ist.

Meine sonst so perfekten Noten geraten in den Händen dieses Mannes in eine gefährliche Abwärtsspirale.

„Miss Sinclair, soll ich Sie vielleicht einfach sofort durchfallen lassen, damit es vorbei ist? Es ist, als würden Sie sich nicht einmal anstrengen.“

Seufzend lehnt er sich gegen sein Metallpult, kreuzt seine Knöchel und hakt die Finger in seinen Gürtel.

Als ich meinen Blick wieder auf ihn richte, überlege ich, was ich sagen soll.

„N-nein, Sir, ich gebe mir wirklich die größte Mühe. Ich werde an meiner Note in Ihrer Klasse arbeiten, Sir. Ich hoffe, die nächste Aufgabe wird Ihnen zeigen, dass ich mich anstrenge.“

Ich nicke wieder und beobachte, wie seine kalten braunen Augen mich mustern.

Es kommt mir beinahe so vor, als wolle er herausfinden, ob ich lüge. Vielleicht ist er aber auch einfach nur kein Fan von meinem Modegeschmack.

„Ich bezweifle sehr, dass Sie diesen Kurs ohne Hilfe bestehen können, Miss Sinclair. Haben Sie schon mal daran gedacht, sich einen Nachhilfelehrer zu nehmen?“

Seine Anwesenheit reicht aus, um mir ein ungutes Gefühl zu geben.

Egal, was ich tue, es reicht nicht aus.

„Mr. Keats, das ist zwar eine gute Idee, aber ich kann es mir nicht leisten. Ich bin mir nicht sicher, warum ich nicht besser abschneide. Wenn Sie mir nur etwas mehr Zeit geben könnten, bin ich mir sicher, dass ich meine Note verbessern kann.“

Ich fummle an meinen Fingernägeln herum, während ich mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagere, um etwas von der Unruhe abzubauen, die er in mir verursacht.

„Ich glaube nicht an Optimismus, Miss Sinclair. Und das sollten Sie zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr.“

Seine Stimme klingt so endgültig, als hätte er sich bereits entschieden und als könnte ich seinen Kurs unmöglich bestehen. Warum sollte ich es also jetzt noch versuchen?

„Sir, bitte. Ich werde jede Aufgabe erledigen, um meine Note zu verbessern. Ich darf in diesem Kurs nicht durchfallen; ich brauche jeden Punkt, um zu bestehen. Wenn ich in diesem Kurs durchfalle, kann ich nächstes Jahr keinen Abschluss machen. Sir, bitte überlegen Sie es sich noch einmal.“

Ich flehe ihn von ganzem Herzen an: Ich brauche diesen Kurs, um zu bestehen. Ich darf nicht durchfallen. Ich muss den Abschluss machen, damit ich aufs College gehen kann.

Ich brauche das College, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, und ich brauche das Geld, um meine Familie zu unterstützen. Es gibt nur Erik und mich. Er hat sich bereits den Arsch aufgerissen, um uns überhaupt so weit zu bringen.

Er hat zwei Jobs; ich sehe ihn kaum, und wenn ich durchfalle, war seine ganze Arbeit umsonst. Wenn ich in diesem Kurs durchfalle, dann enttäusche ich damit auch Erik und das darf nicht passieren. Er verdient mehr als das.

Nach dem Tod meiner Mutter hat er angefangen, sich um mich zu kümmern. Dad ist schon vor langer Zeit gegangen. Ich erinnere mich kaum noch an ihn. Jetzt kämpfen Erik und ich gegen den Rest der Welt.

Ich muss mein eigenes Ding durchziehen. Eigentlich wollte ich mir einen Job suchen, aber Erik hat diese Idee verworfen und mir gesagt, ich solle mich lieber auf die Schule konzentrieren.

Mr. Keats nimmt seine Hände vom Gürtel, führt seinen Mittelfinger an seine Wange und fährt damit über seinen 3-Tage-Bart.

Sein grauer Anzug spannt leicht an seinen, so dass mehr von seinem weißen Hemd zu sehen ist, das er in seine passende graue Hose gesteckt hat.

„Hmm, wenn Sie wirklich Interesse daran haben, wüsste ich vielleicht einen Weg, wie Sie eine bessere Note bekommen können. Kommen Sie heute Abend um fünf Uhr zu dieser Adresse und ich werde Ihnen bei Ihrer Arbeit helfen. Das ist ein einmaliges Angebot, also nehmen Sie es an oder lassen Sie es bleiben.“

Er wendet sich von mir ab und schnappt sich einen gelben Post-it-Zettel von seinem Schreibtisch. Mit einem schwarzen Stift kritzelt er eine Adresse auf den Zettel und hält ihn mir hin, damit ich ihn nehmen kann.

Langsam nehme ich den Zettel in die Hand und halte ihn gut fest. „Danke, Mr. Keats. Ich verspreche, ich werde da sein. Vielen Dank für diese Gelegenheit.“ Ich lächle und meine Brust füllt sich mit Dankbarkeit.

Mr. Keats nickt, als er mich offiziell entlässt. Ich hüpfe praktisch aus dem Raum und den Flur hinunter zu meinem Spind.

Endlich habe ich mal etwas Glück.

Ja, es wird schwer sein, direkt mit Mr. Keats zu arbeiten, aber solange ich bestehe, wird es die Mühe sicher wert sein.

Ich weiß, wie viel von meiner Schulausbildung abhängt.

Mein Bruder ist nur vier Jahre älter als ich. Er kann sich nicht ewig alleine um uns beide kümmern. Er konnte nicht einmal um Mom trauern, bevor er wieder zur Arbeit musste.

Als sie starb, war er gerade achtzehn und seitdem kümmerte er sich um mich, seine fünfzehnjährige kleine Schwester.

Ich weiß, dass er sich sehr anstrengt und dafür bin ich ihm sehr dankbar, aber durch seine Fürsorge für mich hat er viel verloren.

Er verließ das College, nahm einen neuen Job an und gab seine Stipendien auf, wodurch er seine Zukunft auf Eis legte. Er verlor sogar seine langjährige Freundin Dana, weil er keine Zeit mehr für sie hatte.

Seine einzigen Freunde sind mittlerweile Ross und Ben, mit denen er aber auch kaum Zeit verbringen kann, weil er ständig arbeitet.

Erik ist mein persönlicher Superheld. Ich darf ihn nicht im Stich lassen.

Das kann ich einfach nicht.

Wenn er mit der Welt, dem ganzen Stress, den Schulden, die Mom uns hinterlassen hat, den Rechnungen und der Tatsache, dass er sein Leben aufgibt, um die volle Verantwortung für mich zu übernehmen, zurechtkommt, dann sollte ich es doch zumindest schaffen, mich allein um Mr. Keats kümmern.

Oder um jeden anderen, der sich mir in den Weg stellt.

Wenn Erik hart sein kann, kann ich das auch.

***

Ich vergewissere mich, dass ich alles dabei habe, bevor ich die Schule verlasse, dann gehe ich nach Hause. Wir wohnen nur ein paar Blocks entfernt, also dauert es nicht lange, bis ich zu Hause bin, und mich um meine Arbeit im Haushalt kümmern kann.

Erik wird heute Abend erst um Mitternacht nach Hause kommen, also sorge ich dafür, dass das Abendessen fertig ist, er saubere Klamotten hat und natürlich räume ich auch das Chaos auf, das ich angerichtet habe.

Fünfundvierzig Minuten bevor ich mit Mr. Keats verabredet bin, verlasse ich das Haus, nehme den Bus quer durch die Stadt und steige an der richtigen Haltestelle aus. Ich überprüfe den Post-it-Zettel mindestens zehn Mal, um auch ja die richtige Adresse zu finden.

Es ist drei Minuten vor fünf, als ich klopfe.

Als Mr. Keats die Tür öffnet, bin ich verblüfft. Normalerweise trägt er in der Schule immer Anzug und Krawatte, deshalb ist es gelinde gesagt seltsam, ihn bei sich zu Hause zu sehen.

Sein schlichtes weißes Hemd steht ihm gut. Seine lockere hellgraue Jogginghose scheint dagegen schlecht zu passen, aber natürlich sage ich das nicht.

„Sie sind spät dran, Miss Sinclair.“ Seine kalten Augen bohren sich in mich und ich werde sofort verlegen. Ich schaue auf meine Uhr, um zu sehen, dass ich tatsächlich genau pünktlich bin.

„Das tut mir leid, Mr. Keats. Ich dachte, Sie hätten fünf Uhr gesagt.“

Ich schaue nach unten und starre auf seine schwarz-weißen Sneaker. Mr. Keats kleidet sich in seiner Freizeit wie viele der Kinder an meiner Schule. Er ist nicht viel älter - höchstens Mitte dreißig - aber es ist trotzdem irgendwie seltsam.

„Sie haben richtig gehört, aber wenn Sie nicht zu früh kommen, dann kommen Sie zu spät. Ich akzeptiere keine Unpünktlichkeit. Falls Sie es vergessen haben sollten, Miss Sinclair, ich tue Ihnen hier einen Gefallen und lasse mich nicht ausnutzen“, sagt er so streng, dass ich bei seinen Worten zusammenzucke.

„Ja, Sir, das verstehe ich vollkommen. Das tut mir leid. Es wird nicht wieder vorkommen. Ich verspreche es.“

Ich halte meinen Blick gesenkt, weil ich mich nicht traue, ihm direkt in die Augen zu sehen. Es ist, als würde ich in seinen bösen Strudel hineingezogen werden, wenn ich ihm auch nur einen flüchtigen Blick schenke. Als wäre er die Medusa und ich würde zu Stein werden.

„Hm, hier lang.“ Er geht ins Haus und deutet mir mit einer Hand, ihm zu folgen.

Ohne eine Sekunde zu verlieren, trete ich ein und schließe leise die Tür, damit ich ihm meine volle Aufmerksamkeit schenken kann. Ich schnalle meine Tasche von der Schulter und warte auf weitere Anweisungen.

Mr. Keats ist noch damit beschäftigt, ein paar Papiere zu sortieren.

Sein Haus ist schön. Es ist ein richtiges Männerhaus. Ich erkenne sofort, dass er allein lebt, denn seine Junggesellenbude riecht nach Männerparfüm und die fehlende Dekoration lässt auf einen alleinstehenden Mann schließen.

Ich bin mir sicher, dass unser Haus genauso aussehen würde, wenn Erik alleine darin wohnen würde. Meine Mutter hat sich nie wirklich darum gekümmert, wie es bei uns aussah.

Nicht, dass sie sich irgendwelche Dekorationen hätte leisten können. Wir hatten eigentlich nie Geld, und alles, was wir hatten, ging für ihre Sucht drauf.

Mom war kokainsüchtig. Ich glaube nicht, dass sie es lange war; ich weiß noch, wann sie anfing, sich zu verändern. Erst als wir nach ihrer Überdosis ihr Zimmer ausräumten, wurde es uns wirklich klar.

Ich fand eine kleine Tüte mit dem weißen Pulver unter ihrer Matratze, eine winzige Tüte in ihrer Kommodenschublade und etwas Kokainreste auf ihrem Nachttisch.

Als wir ihre Handtasche zurückbekamen, sah sie aus, als hätte man darin eine ganze Puderdose entleert.

Meine Mom war vor am Silvesterabend vor zwei Jahren gestorben. Sie kam zwei Tage lang nicht nach Hause, aber ich dachte, sie wäre bei ihrem Freund Scotty.

Als am dritten Tag dann der Strom abgestellt wurde, wusste ich nicht, was ich tun sollte, also begann ich nach Erik zu suchen.

Als ich ihm von Mom und dem fehlenden Strom erzählte, schien er nicht sonderlich besorgt zu sein. Um ehrlich zu sein, war er auf einer Verbindungsparty und war mehr darüber verärgert, dass ich dort auftauchte, als darüber, was eigentlich los war.

Als ich merkte, dass er betrunken war, suchte ich woanders nach Hilfe. Ben kam zufällig gerade an, als ich die Hoffnung verlor, also erzählte ich ihm, was los war.

Ben zerrte Erik von der Party und brachte uns zu seiner Wohnung außerhalb des Campus. Damals wohnte er mit Ross und einem anderen Typen, Stevie, zusammen.

Wir saßen dort stundenlang zusammen, bis Erik wieder nüchtern wurde und verstand, was los war.

Ben blieb bei mir, während Erik zu Moms Arbeit ging und sich dort nach ihr erkundigte. Dort erfuhr er, dass Mom bereits vor zwei Monaten ihren Job gekündigt hatte.

Ihre Freundin Cindy sagte, dass sie Mom seit Wochen nicht mehr gesehen hatte und das Letzte, was sie von ihr gehört hatte, war, dass Mom Schwierigkeiten mit einem Typen hatte, den sie nur den Gasmann nannten.

Es vergingen zwei weitere Wochen, ohne eine Spur von ihr.

Wir überprüften Krankenhäuser und Gefängnisse und fragten herum. Die Polizei schien kein Interesse zu haben und wies uns immer wieder ab.

Da mittlerweile Weihnachtsferien waren, hatte ich keine Schule. Nach Hause konnte ich jedoch auch nicht, da es dort weder Heizung noch Strom gab.

Während Erik jeden Tag loszog, um Mom zu suchen, blieb Erik bei mir. Leider blieb Erik erfolglos.

Als die Polizei zu Bens Wohnung kam, um die nächsten Angehörigen zu benachrichtigen, war ich beinahe erleichtert.

Ich war diejenige, die den Beamten die Tür öffnete. Ben war zum Abendessen unterwegs, Erik suchte nach Mom und Stevie und Ross waren arbeiten.

Je später der Abend wurde, desto einsamer fühlte ich mich. Ich schaute Wiederholungen von Drake und Josh auf einer Streaming-Seite, die Stevie für uns eingerichtet hatte.

Ich erinnere mich immer noch daran, als wäre es gestern gewesen.

Ich erinnere mich noch gut an die Beamten: Detective Fordmen und Officer Harris.

Sie fragten, ob ich allein sei und ob mein Bruder zurückkommen könne. Ich sagte ihnen, dass er noch unterwegs sei, aber sicher bald kommen würde und, dass wenn es um meine Mom ginge, sie es mir auch sagen könnten.

Ich konnte die Schwingungen der schlechten Nachrichten, die von ihnen ausgingen, bereits spüren; ich wusste, dass sie nichts Gutes zu sagen hatten.

Als Detective Fordmen sagte, dass sie eine Frau gefunden hatten, die auf die Beschreibung meiner Mutter passte und ihre Leiche identifiziert werden musste, sagte ich nur okay und stimmte zu, dass mein Bruder und ich zum Leichenschauhaus gehen würden.

Ich führte sie hinaus und wartete dann. Allein und mit dem bitteren Geschmack der Wahrheit im Mund. Ben kam mit Armen voller Tüten zurück. Er brauchte nur einen Blick auf mich zu werfen und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte.

„Mari?“, sagte er. Mari, ist die Kurzform für Marcella. „Was ist los?“ Er ließ die Tüten auf die Arbeitsplatte fallen und war eine Sekunde später bereits an meiner Seite.

Seine starken, durchtrainierten Arme waren angespannt und seine Hände zu Fäusten geballt. Der Blick in seinen hellblauen Augen wärmte mich, und es war, als würde, zumindest für einen Moment, der Sommer zurückkommen.

„Meine Mom ist tot, und Erik und ich müssen ihre Leiche identifizieren. Die Polizei war gerade hier“, sagte ich emotionslos.

Sofort fühlte ich mich wieder wie betäubt.

Bens Gesicht verfinsterte sich für eine Sekunde, bevor er seine eiserne Gelassenheit wiederfand. Ich sah, wie sein Kiefer auf- und zuklappte und die Nachdenklichkeit seine Augen trübte.

Ben war schon immer riesig gewesen. Als kleines Kind hatte er mich immer an einen Bären erinnert. Sein dunkelbraunes Haar ähnelte dem Fell eines Grizzlys.

Er war schon immer viel größer gewesen als der Rest von uns, und als er anfing, zu trainieren, wurde er nur noch größer.

„Vielleicht haben sie die falsche Person und sie ist immer noch da draußen. Vielleicht ist sie gar nicht tot.“ Seine Stimme war so sanft, wie ich sie noch nie gehört hatte.

Wie immer war Ben ein wahrer Fels in der Brandung. Er ist Eriks bester Freund und genauso alt wie er, aber auch ich stehe ihm sehr nahe.

Ich schüttelte den Kopf, nein. Ich wusste es in dem Moment, als die Beamten klopften. Meine Mutter war wirklich tot. Das wusste ich tief in meinem Herzen.

Als Ben seine Hand in meine schob und unsere Finger miteinander verschränkte, spürte ich, wie die Mauer nachgab und die Traurigkeit mich überflutete. Noch bevor mir die erste Träne in die Augen schoss, hatte Ben mich in seinen Armen.

Er drückte mich fest an seine Brust, während ich schluchzend sein Hemd durchnässte, bis ich kaum noch Luft bekam. Während ich weinte, realisierte ich, dass mich noch nie jemand so gehalten hatte. Es war, als ob er mich genauso sehr brauchte wie ich ihn.

Ich weinte, bis mein Herz keine Tränen mehr hatte und ich mich einfach nur noch vollkommen leer fühlte. Trotzdem ließ Ben mich nicht los. Er sagte nicht, ich solle aufhören oder mich beruhigen. Er hielt mich einfach fest und spielte mit meinem Haar.

Als Erik zurückkam, war Ben derjenige, der es ihm sagte, während ich mir das Gesicht wusch. Kurz darauf machten mein Bruder und ich uns auf den Weg, um Moms Leiche zu identifizieren. Die nächsten Tage waren nur noch verschwommen.

Das Einzige, woran ich mich wirklich erinnerte, war Ben. Wie er sich um mich kümmerte und dafür sorgte, dass es mir gut ging. Ein Grizzlybär, der nie von meiner Seite wich.

Als ich Erik bat, dem Staat die Vormundschaft für mich zu überlassen, damit er sein Leben weiterleben konnte, flippte mein Bruder samt Freundeskreis jedoch aus.

Nicht nur Erik, sondern auch Ben, Ross und Stevie, die alle, die nach Moms Tod wie Brüder für mich geworden waren, schimpften mit mir, weil ich es überhaupt vorgeschlagen hatte.

Ich denke immer noch, dass es die bessere Entscheidung gewesen wäre.

Es wäre einfacher für ihn gewesen.

***

„Soll ich meine Sachen hier auspacken, Mr. Keats?“, frage ich, während er immer noch seinen Papierkram aufräumt und Platz auf seiner dunkelroten Ledercouch schafft.

Er sagt nichts; er nimmt meine Anwesenheit überhaupt nicht zur Kenntnis. Ich stehe hinter ihm und warte schweigend darauf, dass unsere Nachhilfestunde beginnt.

Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, bis er fertig ist und mich bittet, meine Tasche abzulegen und ihm aus dem Raum zu folgen.

Los geht's.

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