Alpha und Aurora - Buchumschlag

Alpha und Aurora

Delta Winters

Schurke

RORY

Ich rutsche aus, als der Wolf sich mir nähert, und greife nach der Schulter des Schurken. Meine Fingernägel graben sich in seine Haut, als ich meinen Halt wiederfinde – nicht, dass ich zuvor Halt hatte.

„Ich rieche Rudelwölfe an dir. Ich hasse Rudelwölfe mehr als alles andere. Und es scheint, als hätten sie dich verletzt. Was ist passiert?”

„S-sie … haben versucht, mich u-umzubringen”, stottere ich, als die kalte Morgenluft mich zum Frösteln bringt.

Ich trage nur meine blutige Schulkleidung, wickle meine Arme nach Wärme suchend um mich und löse meine Hände von seinen heißen Händen.

„H-hi”, sage ich ein bisschen peinlich berührt. Mir wurden viele angsteinflößende Geschichten über Schurken erzählt – Geschichten, die mir als kleines Kind wochenlang Albträume eingebracht haben.

Aber bei näherer Betrachtung erscheint dieser Mann vor mir, dieser Schurke, nicht so bedrohlich.

Aber der Schein kann trügen.

Meine Reaktion auf ihn entlockt ihm ein kleines Kichern, aber dann kneift er die Augen zusammen, als wolle er dieses Menschenmädchen vor ihm abschätzen.

„Du bist an Werwölfe gewöhnt”, stellt er fest und beurteilt mich weiter. „Du solltest nicht hier draußen sein.”

„Ich kann nirgendwohin.”

Das stimmt … Ich kann nicht nach Hause gehen, ich kann nie mehr nach Hause gehen. Sie denken, dass sie mich umgebracht haben. Sie denken, dass ich tot bin.

Und ich glaube, das war ich auch.

Aber ich kann nicht dorthin zurückkehren, auch wenn Mama – die einzige Person, die ich wirklich liebe – dort ist. Ohne mich ist sie sicherer.

Jetzt ist sie einfach nur eine Omega, und nicht die Omega, die den einzigen Menschen im Rudel aufzieht.

„Du solltest gehen, kleines Mädchen. Ich habe dich in der Nacht beschützt, aber jetzt muss ich gehen“, sagte der Schurke und bei seinen Worten weiten sich meine Augen.

„Du hast mich beschützt?”, frage ich.

„Du bist hier auf offener Fläche gelegen, mitten im Schurkenterritorium. Hier kommen viele Schurken vorbei, und ich bin einer von ihnen. Zum Glück für dich, war ich der erste. Andere sind nicht so freundlich zu Menschen.

Weil ich dich beschützt habe, haben sie sich zurückgezogen oder haben einfach eine andere Route gewählt, als sie mich gerochen haben. Aber jetzt gehe ich”, erklärt er und verwandelt sich zurück in seine Wolfgestalt.

„Danke.” Er nickt anerkennend, bevor er in den Wald davonläuft und blitzschnell durch das Labyrinth von Bäumen aus meinem Blickfeld verschwindet.

Ich kann hier nicht bleiben. Besonders nicht noch eine Nacht. Aber wohin kann ich gehen?

Vielleicht kann ich Freya finden und ihre Familie bitten, mich bei ihnen schlafen zu lassen. Aber es ist eine große Bitte, sich um ein weiteres Kind zu kümmern.

Andererseits bin ich achtzehn, wäre ich eine große Belastung?

Was ist mit Eddie? Wir waren jahrelang befreundet, bevor er mein fester Freund wurde. Aber ich habe noch nicht mal seine Eltern getroffen, auch wenn sie von mir wissen.

Freyas Eltern habe ich auch noch nicht getroffen. Meine Freizeit habe ich immer mit dem Rudel verbracht, das mich verraten und versucht hat, mich umzubringen.

Und jetzt gibt es keinen Ort, an den ich gehen kann.

Als ich in der Nähe das Rauschen eines Flusses höre, renne ich darauf zu, weil der Durst mich plötzlich überkommt. Ich bin furchtbar durstig und meine Kehle ist unglaublich trocken, weil mir die Kehle aufgeschnitten wurde.

Doch wie der Tollpatsch, der ich bin, stolpere ich und koste wieder Erde.

Ich bin verflucht. Verflucht ungeschickt.

Ich spucke den Matsch in meinem Mund aus und krabble auf das Wasser zu, um mir den Mund auszuwaschen. Aber ich halte inne, als ich meine Spiegelung im Wasser erkenne und ich mit meinem Spiegelbild Blickkontakt herstelle.

Ich bemerke den verängstigten, verrückten, beunruhigenden Blick. Das Blut ist wie Farbe über mein ganzes Gesicht verteilt, die getrockneten Linien meinen Kiefer hinab lassen mich aussehen, als hätte ich etwas Rohes gegessen.

Diese Linien verbinden sich an der blutroten Scharte, die sich da befindet, wo mir einst die Kehle aufgeschnitten wurde, und verlaufen dann über mein Schlüsselbein und meine Kleidung.

Der Schurke muss gedacht haben, ich sei ein einziges Durcheinander. Vielleicht hat er mich beschützt, weil er ein blutiges, hilfloses Mädchen gefunden hat, das im Wald ohnmächtig wurde.

Ich weiß nicht, wie ich das alles erklären soll. Ich weiß nicht, warum ich noch lebe.

Ich bin gestorben, das weiß ich. Meine Seele hat meinen Körper verlassen, wurde zu diesem unbeschwerten, einsamen Ort gebracht, und dann wurde ich hierher zurückgeschickt, von dieser Kraft.

Sie hat mich zurückgeschickt. Und jetzt bin ich hier.

Lebendig.

Ich wurde wiederbelebt. Schon wieder.

Warum?

Ist das ein Wunder oder ein Unheil?

Ich fange wieder an zu laufen, diesmal vorsichtiger. Das Rascheln der Blätter unter meinen Füßen lässt mich mir meiner Umgebung bewusst werden. Ich habe kein gesteigertes Gehör und keinen gesteigerten Geruchssinn. Ich weiß nicht, ob hier etwas lauert, ob mich etwas angreifen könnte.

Manchmal wünsche ich mir, als Werwolf geboren worden zu sein, dann wäre all das nicht passiert. Ich wäre im Rudel willkommen gewesen, ich könnte meine eigenen Schlachten schlagen.

Aber stattdessen bin ich ein kleiner, schwacher Mensch – der anscheinend die Fähigkeit hat, wieder zum Leben zu erwachen.

Das Wimmern und die Schreie eines Tieres reißen mich aus meinen Gedanken und ich suche die Umgebung nach dem Urpsrung der Geräusche ab. Das Tier könnte harmlos wirken, sich aber als ziemlich gefährlich herausstellen.

Als ich mich langsam dem Geräusch nähere, verstummen die Schreie immer mehr, wodurch ich das Klopfen meines Herzens in meinen Ohren hören kann.

Aber dann entdecke ich etwas: Ein Rehkitz, auf dessen ganzen Körper sich Bisswunden befinden. Irgendetwas muss einen Schurken verjagt haben, dass er sein Abendessen teilweise intakt zurückgelassen hat.

Ich knie mich neben die Kreatur und hoffe, dass ich ihr Leiden durch Streicheln lindern kann.

Meine Hand schwebt über den Wunden und dann drücke ich auf sie, wodurch das Blut davon abgehalten wird, weiter herauszusickern.

Ein kleines Wimmern ertönt von dem Tier, aber bald wird das kleine Jungtier ohnmächtig.

Eine Träne entkommt meinen Augen, als ich auf das Tier hinunterstarre. Genau wie ich, ist auch es allein inmitten des Schurkenterritoriums; ein Kind, das sich selbst überlassen wurde und vor den Schrecken der Welt davonläuft.

Es verdient es, zu leben, es sollte leben. Es hat nichts falsch gemacht.

Warum sterben die Unschuldigen, wenn das Böse wächst und gedeiht, wie Alpha Nick und Victoria?

Plötzlich wacht das Rehkitz auf und keucht, während sich sein Brustkorb schnell hebt und senkt.

Ich ziehe meine Hände weg und sehe, dass die Bisswunden nicht mehr da sind, sondern irgendwie unter meinen Händen verschwunden sind.

Das Blut ist noch da und bedeckt meine Hände, aber genau wie der Schnitt an meiner Kehle, sind die Wunden des Jungtiers auf wundersame Art und Weise geheilt.

Habe ich das gemacht? Habe ich dieses Tier gerettet? Wie ist das möglich?

Das Rehkitz lag im Sterben und jetzt kämpft es sich auf seine Beine und rennt davon.

Vor einem Augenblick hatte ich noch jede Menge Energie. Aber jetzt bin ich plötzlich erschöpft, obwohl es noch früh am Morgen ist.

Ich stütze meinen Kopf auf meine Hände, mir schwirrt der Kopf davon, all die seltsamen Dinge verstehen zu wollen, die mir in den letzten 24 Stunden passiert sind.

Und dann höre ich etwas …

Noch ein Knurren. Anders als das Letzte. So ein Glück kann ich nicht noch einmal haben.

Ohne nachzudenken, schieße ich in die Höhe und laufe los.

Ich blicke nicht nach hinten, weil ich Angst habe, dass mich das verlangsamen würde … dass ich dann noch schneller gefangen werde.

Aber das ist ein Wolf, der mich da verfolgt. Ich werde nicht weit kommen, besonders wenn ich weiterhin alle sechs Sekunden über jeden Ast in meinem Weg oder meine eigenen Füße stolpere.

Als ich spüre, wie ich von der Kreatur angesprungen werde, bin ich mir sicher, dass dies das Ende ist.

Hier sterbe ich. Schon wieder.

Ich sollte wirklich versuchen, länger am Leben zu bleiben. Mein letzter Tod liegt erst einen Tag zurück.

Aber der Tod kommt nicht. Zumindest noch nicht. Als ich Knochen knacken höre, wird mir klar, dass die Bestie sich aus irgendeinem Grund verwandelt.

Die Pfoten, die mich einst niederdrückten, verwandeln sich in große Hände, die mich auf meinen Rücken drehen.

Ein überwältigender Sog zieht mich zu dieser Kreatur hin. Eine seltsame Ekstase überrollt mich, als er seinen Körper gegen meinen drückt.

Ich öffne blinzelnd meine Augen und sehe ein Paar strahlend blauer Augen, die mich anstarren. Die Augen aus meinen Träumen.

Das ist er.

„Gefährtin”, knurrt er in mein Ohr.

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